Brandneues

Die letzten Nomaden

Madagaskar hat viele verschiedene Volksgruppen, und bei den meisten findet man auch heute noch ursprüngliche Lebensweisen, alte Traditionen und seit Jahrhunderten fest verwurzelten Glauben. Doch eine kleine Gruppe von Madagassen lebt noch ursprünglicher, noch näher an der Natur und näher am Leben ihrer Vorfahren: Die Mikea, die letzten Nomaden Madagaskars.

Ihren Namen hat die kleine Volksgruppe von rund 1000 Menschen vom gleichnamigen Wald im südwestlichen Teil des Landes, der nahe Morombe und dem See Ihotsy liegt. Das Gebiet, dass sie noch heute durchwandern, reicht von dort bis Manambo, das nicht weit von Toliara (früher Tuléar) im Süden liegt. Die Madagassen nennen es Ambany’vohitse, das Land unter den Hügeln.

Masikoro-Mikea-Mädchen
Masikoro-Mikea-Mädchen

Woher die Mikea kommen oder von wem sie abstammen, weiß man nicht genau. Erste Hinweise von der Besiedlung Madagaskars gibt es auch aus dem Gebiet dieser Volksgruppe, und man geht vielerorts davon aus, dass die Mikea Nachfahren eines Teils der Vazimba sind. Andere Theorien gehen dahin, dass es sich bei den Mikea um Menschen handelt, deren Vorfahren vor den Sakalava im 17. und 18. Jahrhundert oder später vor den französischen Kolonialherren in die Wälder flohen. Dagegen spricht, dass schon im 16. Jahrhundert verschiedene Seefahrer im Gebiet der Mikea Menschen vorfanden, die den heutigen Mikea sehr ähnelten.

Heute teilen sich die Mikea ihren Lebensraum vor allem mit den Volksgruppen der Masikoro im Osten und den Vezo an der Küste. Viele Mikea sprechen zwar den Dialekt der Masikoro und tragen ihre Clan-Namen, weisen jedoch nach wie vor viele Unterschiede zu ihren Nachbarn auf, beispielsweise im Glauben oder beim Nutzen von Mikea-eigenen Worten, die sich in keiner anderen Sprache wiederfinden. Sie leben meist in kleinen Siedlungen von wenigen Hütten und einer Hand voll Menschen unter einfachsten Bedingungen. Lendenschürze, alte Kleidung und Tücher dienen als Schutz vor Sonne und Wind.

Die Mikea haben einen wiederkehrenden Jahresrhythmus, der im Oktober mit der langsam einsetzenden Regenzeit (fasoa/litsake) beginnt. Sie schlafen während dieser Zeit unter freiem Himmel, oft reicht eine Kuhle im Sand als Schlafstatt aus – man schläft eben dort, wo man gerade ist. Das Volk befindet sich jetzt in der sogenannten Kizo. Männer und Frauen sammeln soviele Knollen wie sie können, meist Süßkartoffeln (Ovy) und Maniok, dessen Blätter (Cassava) sie ebenfalls nutzen. Was nicht gegessen wird, wird aufbewahrt für später. Ein paar Knollen lassen die Mikea stets zurück, um im nächsten Jahr wieder an gleicher Stelle ernten zu können.

Im November, mit Einsatz von verhältnismäßig hohen Niederschlägen, wandern die Mikea zu ihrem Tana, einem kleinen Dorf, das sich meist auf einer Waldlichtung befindet. Je nach Verfügbarkeit von Süßkartoffeln und Maniok bleibt auch das Dorf nicht langfristig an einer Stelle, sondern zieht stets dortin, wo die besten Ernten zu erwarten sind. Um die Hütten aus Palmenblättern und Gräsern (Tranofotake mit Lehm oder Tranovondro mit Bastmatten) sind schmale Felder angelegt, die während der Abwesenheit ihrer Besitzer relativ wild wuchern. Vor den größeren, besser befestigten Hütten befinden sich oft Kitrely genannte Dächer, die sowohl als schattiger Unterstand als auch zur Aufbewahrung oder Trocknung von Lebensmitteln genutzt werden.

Baobab, der als Wasserspeicher genutzt wird
Baobab als Wasserspeicher

In der Regenzeit geht man auf die Jagd, und nutzt dazu vielerorts Tranoakata, schmale rechteckige Hütten aus Gras. Mit Speeren und Schlingen, seltener Fallgruben, jagen die Männer nach Buschschweinen, Vögeln und ab und zu auch kleinere Lemuren. Im November oder Dezember wird Mais und Maniok angepflanzt, die dazu vorgesehenen Felder werden dazu vorher einfach niedergebrannt. Langsam kommen Tenreks (Tambotrike) aus ihren Höhlen, und werden zum meistgenutzten Jagdobjekt der Mikea. Im Wald können die Menschen außerdem wilden Honig sammeln.

Am Ende der Regenzeit, gegen März, April, bricht die Zeit der Maisernte an. Jetzt leben viele Mikea in den Tranoholits’hazo, kaum brusthohe Hütten aus Baumrinde. In der brennenden Sonne der Trockenzeit werden Vorräte getrocknet, und es beginnt erneut die Zeit der Kizo. Die Tenreks gehen inmitten der Hitze in eine Art Sommerstarre und werden damit zur leichten Beute. Die Trockenzeit (asotry) ist jedoch insgesamt die schwerste Zeit des Jahres für die Mikea. Sie folgen jetzt den besten Jagd- und Sammelgründen. Der Ihotsy ist wie viele andere Gewässer der Gegend ein Salzsee, und einzige Trinkwasserquellen sind der Mangoky-Fluss und im Gebiet von Namonte einige kleine Teiche und Bäche, hier leben die Mikea ähnlich den Vezo auch vom Fischfang. Sie nutzen dazu Tsanosokay genannte Hütten, die am Strand stehen und ihren Standort je nach bestem Fanggebiet wechseln. Einige von ihnen verlassen auch das Land und leben auf ihren selbst gebauten Segelbooten oder umliegenden Inseln. Wer dagegen in den trockenen Gebieten lebt, muss oft dursten und hungern. Die Mikea nutzen wie viele Menschen des Südens gerne Pflanzen, um das lebenswichtige Nass zu erhalten. So findet man immer wieder angebohrte Baobabs, aus denen Wasser geschöpft wird. Die Mikea kennen außerdem eine lange, dicke Wurzel namens Babo, die ähnlich einer Wassermelone schmeckt und enorme Mengen Wasser speichert. Für besonders karge oder harte Jahre nutzen die Mikea das Wort baintao, was soviel wie „das verwundete Jahr“ bedeutet.

Wie viele Madagassen ist der Glaube an die Ahnen bei den Mikea sehr wichtig. Sie haben heilige Bäume, hazofaly (faly bedeutet hier nicht glücklich, sondern ist ein Dialekt von fady, also tabu), in denen die Ahnen leben. Meist sind es Baobabs oder Tamarindenbäume. Im Gegensatz zu den um sie herum lebenden Masikoro gibt es bei den Mikea aber weder Tromba (Geister der Ahnen, die den Lebenden erscheinen) noch Beschneidungszeremonien.

Ihr höchster Gott is Ndranangahary, dem Opfergaben wie Rum, Honig, Tabak oder seltener auch Tiere gewidmet werden. Mikea leben zumeist in Familienverbänden, ein Mann hat dabei mehrere Frauen. Bereits mit etwa zehn Jahren schlafen Kinder nicht mehr bei ihrer Familie, sondern in ihren eigenen kleinen Hütten, schlichte Konstruktionen aus Stöcken und einem übergeworfenem Dach aus Gras oder Rinde, das an beiden Seiten offen ist. Ähnliche einfache Unterkünfte nutzen die jungen Männer, wenn sie als Viehhirte, zum Verkauf eigener Waren oder auf der Suche nach kleinen Jobs durch die Region reisen.

Masikoro-Mikea
Masikoro-Mikea

Auch heute noch glauben viele Madagassen und Fremde, dass die Mikea gar nicht existieren. Das liegt zum einen daran, dass ihr unwirtlicher Lebensraum wenig Menschen anzieht, zum anderen gehen sie Fremden bewusst aus dem Weg. Viele Mikea haben sich mit den Masikoro und Vezo gemischt und leben nur noch halbnomadisch in deren Dörfern, zum Beispiel in Vorehe, Andalambezo oder Ampalabo. Dadurch teilen viele Dorfbewohner die Mikea in die echten Mikea, die Masikoro-Mikea und die Vezo-Mikea. Von den echten Mikea wird vieleorts sogar behauptet, dass sie vor Fremden aus ihren Dörfern flüchten. Dieser Eindruck könnte aber auch durch ihr nomadisches Leben entstehen und die unangekündigte Ankunft Fremder zu ungünstigen Zeitpunkten, denn viele Hütten sind tagsüber leer und werden erst abends wieder von Leben erfüllt. Oft werden Mikea als primitive Waldbewohner betrachtet, die stets verschmutzte Kleidung tragen und vor Menschen ängstlich davon laufen. Tatsächlich tragen die meisten nomadisch lebenden Mikea ihre „gute“ Kleidung nur zu Besuchen anderer Dörfer und nicht im Alltag. Parallel wird ihr großes Wissen um den Dornwald, seine Bewohner und Pflanzen, aber von anderen Volksgruppen sehr geschätzt. Ihre Heiler, die Ambiasy, werden in Madagaskar als sehr mächtig angesehen.

Seit den 90er Jahren ist es den Mikea verboten, ihre erst seit wenigen Jahrzehnten genutzte Form des Maisanbaus (hatsake) weiter auszuführen. Dadurch soll wertvoller Wald vor weiterer Abrodung geschützt werden. Stattdessen wird heute der Maniok-Anbau forciert, bei dem die Felder länger als nur zwei oder drei Jahre genutzt werden können. Seit 2007 ist der Mikea Forest offizielles Schutzgebiet, das in Zukunft sogar Nationalpark werden soll. Dieser Schutzstatus bedeutet starke Einschränkungen für die Nutzung des Waldes und der umliegenden Pufferzone. Die Mikea selbst sollen offiziell keinen Einschränkungen unterliegen, was sich jedoch in der Praxis als nur schwer umsetzbar herausstellt. Wer Mikea ist oder sich als Mikea versteht, ist von Ort zu Ort sehr unterschiedlich und kann nicht allgemeingültig festgelegt werden. Erschwerend kommt hinzu, dass im westlichen Bereich des eigentlich geschützten Gebietes eine große Region zum Abbau von u.a. Titan freigegeben wurde und seitdem unter den Menschen das Gerücht umgeht, man wolle sie vertreiben.

Quer durch das Gebiet der Mikea führt seit Jahrzehnten die RN9. Fährt man die Straße als Reisender entlang, so kann man hier und da Honigtöpfe und andere Tauschwaren am Straßenrand finden. Man darf sich davon etwas nehmen, muss jedoch etwas Gleichwertiges im Tausch an der gleichen Stelle hinterlassen, beispielsweise Tabak, Reis, Werkzeug oder Rum. Die Mikea selbst wird man nur in den seltensten Fällen zu Gesicht bekommen. So bleiben sie die heimlichen, unbekannten Bewohner der rauen Dornälder und Ebenen des Südwestens – und die letzten Nomaden Madagaskars.

Lesens- und Sehenswertes zum Thema:

    • Tribal journeys: The Mikea
      Jean-Pierre Dutilleux | Frankreich 1997 | Dokumentation | 30 min
    • Fotos von Frans Lanting
    • Mytification of the Mikea
      Journal of Anthr. Research Vol 56, No 2, S. 163 – 185 | USA 2000 | Autoren: Lin Poyer, Robert Kelly
    • An ethnoarchaeological study of mobility, architectural investment and food sharing among Madagascar’s mikea
      Amerian Anthropologist Vol 107, No 3 | USA 2005 | Autoren: Lin Poyer, Robert Kelly, Bram Tucker

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